Heiliger Herumtreiber – Augustinus-Figur auf Heimatbesuch

26.10.2022 Sonja Rakoczy

Anhand des geöffneten Buchs und des getroffenen Herzens ist die Figur in der Sonderausstellung „Latein. Tot oder lebendig!?“ als Augustinus zu erkennen. Leihgeber: Kath. Kirchengemeinde St. Johannes Baptist, Marsberg-Oesdorf. Foto: LWL/Rakoczy.

Eine spätgotische Steinfigur mit bewegter Geschichte ist nach 200 Jahren wieder im Kloster Dalheim zu sehen. Auch der in ihr verkörperte Augustinus von Hippo (354–430) beschritt einen wechselhaften Lebensweg.

Das wohl älteste Portrait des Heiligen Augustinus stammt aus dem 6. Jahrhundert und stellt ihn in der Lateransbasilika als antiken Gelehrten vor. Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons.

Der Mann, der auszog, das Glauben zu lernen

Der Römer Augustinus wird im Jahr 354 im heutigen Algerien geboren. Sein Vater hängt dem antiken Vielgötterglauben an, seine Mutter aber ist frühe Christin. Ihre Religion wird im römischen Reich erst seit 40 Jahren geduldet; blutige Christenverfolgungen sind dem vorausgegangen. Als Sohn eines Beamten besucht der Junge, der mit Latein als Muttersprache aufwächst, örtliche Schulen. Danach studiert Augustinus in Karthago die Redekunst. Jugendliche Zügellosigkeit, ein Verhältnis zu einer Frau und die Geburt des gemeinsamen Sohnes stehen seiner Karriere nicht im Weg: Er wird als Rhetoriker sogar am Kaiserhof erfolgreich. Die früheste bekannte Darstellung des Augustinus zeigt ihn entsprechend als antiken Gelehrten in Ledersandalen und Toga, mit einer Schriftrolle in der Hand und einem Buch vor sich.

Dem circa 1.500 Jahre alten Fresko in Rom sind Augustinus’ Erfolg und Status anzusehen. Persönlich aber gerät er zunächst in eine tiefe Krise. Er wendet sich ab von einer heidnischen Religion, die nur das Licht auf der einen und die Finsternis auf der anderen Seite kennt. Doch die Finsternis wird er nicht los: Er sieht sich selbst als von Sünde befleckt (vgl. Conf. VIII, 7, 16). Erschüttert setzt er sich mit dem Christentum auseinander – der Religion, die nicht mehr nur ein Heilsversprechen von vielen anbietet, sondern inzwischen Staatsreligion ist.

Das Bild, das er von sich selbst hat, verschiebt sich: Er ist nun kein weltlich orientierter Redner mehr, sondern Philosoph auf der Suche nach dem großen Ganzen. Mit den literarisch schlichten, inhaltlich bisweilen sogar widersprüchlichen Texten der Bibel tut er sich aber, wie schon in seiner Schulzeit, schwer (vgl. Conf. VI, 4, 6 und ebd., 5, 8). Nach seiner Aussage befiehlt ihm da eine Stimme: „Tolle, lege“ – „Nimm, lies!“ (Conf. VIII, 12, 29). Aufgewühlt kann Augustinus keine andere Erklärung dafür finden, als eine göttliche Anordnung erhalten zu haben. Als er das Buch aufschlägt, lösen sich seine dunklen Zweifel auf, und er fühlt sich erhellt durch neue innere Sicherheit (vgl. ebd.).

Der Schnitt „Augustinus in der Studierstube“ (H. Springinklee, ca. 1518; Stiftung Kloster Dalheim/LWL) mit dem legendenhaften Knaben ist ebenfalls in der Latein-Ausstellung zu sehen. Foto: Ansgar Hoffmann, www.hoffmannfoto.de

Auf dieses Bekehrungserlebnis hin lässt er sich taufen, kehrt sich ab von allem Diesseitigen – auch von seiner Frau – und beginnt ein kontemplatives Leben. Später, als Priester und Bischof im nordafrikanischen Hippo Regius, wird er anderen vom Hinwenden zu Gott predigen (vgl. Sermo CCLVI, 2). Der geistige Weg, den Augustinus beschreitet, ist jedoch nicht einfach. Seine Fragen und Überlegungen zu Bibel und Christentum bleiben. Er verschriftlicht sie in Werken, die ihn bis heute zu einer Autorität des Christentums und zu einem herausragenden lateinischen Autor machen.

Und doch ist Augustinus von Hippo manchmal mit seinem Latein am Ende. Ein Holzschnitt zeigt das mit dem Verweis auf eine mittelalterliche Legende: Zu Füßen des belesenen Manns in Bischofsornat sitzt in diesem Bild ein Knabe mit Löffel in der Hand. Augustinus soll mit seinem menschlichen Verstand nicht eher die göttliche Dreifaltigkeit in ihrer Gänze verstehen, als dass ein Knabe das ganze Meer mit nur einem Löffel ausschöpfen könnte.

Die Vorbildfigur, die Kloster Dalheim zierte

Trotz seiner offenen Fragen findet Augustinus Erfüllung in seinem neuen Leben als Christ. Für die um ihn versammelten Gläubigen verfasst er die erste abendländische Ordensregel. Nach dieser Anleitung und nach dem Vorbild des heiliggesprochenen Bischofs leben und beten in späteren Jahrhunderten Mitglieder christlicher Gemeinschaften.

Im Inneren der heute entweihten Dalheimer Kirche markiert eine Abtrennung den Standort des ehemaligen, figurenbestückten Lettners. Foto: LWL/Rakoczy.

Solche Augustiner-Chorherren richteten 1429 das Kloster Dalheim ein, das in der Folgezeit großzügig ausgebaut wurde. Auch die Kirche, ein für die Region ungewöhnlicher Bau der 1460er Jahre, war zwar äußerlich entsprechend der augustinischen Ordensregel schlicht, im Inneren aber reich ausgestattet. Ein spätgotischer Lettner trennte den hinteren, für die Laien bestimmten Teil der Kirche wie eine halbhohe Wand ab von den Chorherren. Blickten die Gläubigen der Gemeinde Richtung Altar, sahen sie auf feines Maßwerk und Kielbögen des Lettners, in denen bunte Figuren Platz fanden. Hier stand wohl auch eine Statue des Heiligen Augustinus.

Solche Abbilder von Heiligen waren ein Teil der Volksfrömmigkeit, die Augustinus von Hippo schon von seinen Zeitgenossen kannte. Er, der die Verbildlichung Gottes scharf verurteilte, schätzte andere christliche Kunst:

quoniam pulchra trajecta per animas in manus artificiosas, ab illa pulchritudine veniunt, quae super animas est –
weil das Schöne, das durch die Seelen in kunstfertige Hände übergegangen ist, von jener Schönheit kommt, die über den Seelen steht (Conf. X, 34, 53).

Vom zerstörten Dalheimer Hochaltar (H. Papen, um 1690; Stiftung Kloster Dalheim/LWL) blieb dieses Fragment einer Heiligenfigur erhalten. Foto: LWL/Rakoczy.

Die Schönheit der christlichen Kunstwerke konnte das Dalheimer Kloster allerdings nicht vor der Aufhebung durch einen Erlass des preußischen Königs schützen. Im Gegenteil sollte ab 1803 auf dem für Landwirtschaft vorgesehenen Anwesen nichts an die frühere Glaubensauslebung der Augustiner-Chorherren erinnern. Wie diese selbst wurden auch einige ihre Kunstgegenstände zerstreut. Wertvolle Bücher gingen an andere Bibliotheken über, die Orgel wurde abtransportiert, Werke aus Edelmetall wurden eingeschmolzen, die Abbilder von Heiligen am steinernen Hochaltar zerschlagen.

 

 

Der Heilige, der heimkehrte

Während der Verbleib vieler Kunstwerke aus dem ehemaligen Kloster Dalheim nicht nachvollzogen werden kann, gilt er für andere als gesichert. Anhand von schriftlichen Quellen lässt sich nachweisen, dass einer der Augustiner-Chorherren auch nach 1803 in der Nachbargemeinde Oesdorf als Pfarrer tätig war. Er erwirkte die Überführung von mehreren Heiligenfiguren sowie anderen Kunst- und Kultgegenständen.

In der Kirche von Oesdorf findet sich daher heute die circa 70 cm hohe Statue des Heiligen Augustinus auf einem steinernen Sockel wieder. Stilistisch lässt sie sich dem ausgehenden 15. Jahrhundert zuordnen und stammt vermutlich vom zerstörten Lettner der Augustiner-Chorherrenkirche in Dalheim. Anlässlich der Sonderausstellung „Latein. Tot oder lebendig!?“ (13.05.2022–08.01.2023) im ehemaligen Kloster Dalheim hat die Katholische Kirchengemeinde St. Johannes Baptist zu Oesdorf die Figur dem heutigen Museum als Leihgabe zur Verfügung gestellt.

Die Figur des Heiligen Augustinus aus dem Lettner der Dalheimer Klosterkirche ist als Leihgabe der Kirchengemeinde Oesdorf bis Januar 2023 in Dalheim zu sehen. Leihgeber: Kath. Kirchengemeinde St. Johannes Baptist, Marsberg-Oesdorf. Foto: LWL/Rakoczy

Besucherinnen und Besucher können dem Abbild des Augustinus nun auf Augenhöhe gegenübertreten. Das bewegte Schicksal der Figur ist ihr kaum anzusehen: Nur auf der Rückseite fallen Spuren einer älteren Befestigung auf, und der Sockel ist seitlich etwas abgestoßen. Der Baumberger Kalksandstein glitzert leicht. Augustinus steht aufrecht. Seine Gewänder mit Resten von bunter und goldener Fassung, die Mitra auf seinem Kopf und der unter seinen Arm geklemmte Hirtenstab: Diese Darstellung weist auf seinen Status als Bischof hin. Der Faltenwurf seines Umhangs, die feinen, textilartigen Muster an den spitz zulaufenden Schuhen und den beringten Handschuhen durchbrechen die Statik des Steins.

Man erkennt Augustinus an dem Buch, das er schon seit der Antike auf Abbildungen bei sich hat; diesmal präsentiert er, der Kirchenlehrer, es offen, auf seiner rechten Hand für den Leser bereitstehend. In seiner Linken liegt ein Herz, das von einem Pfeil durchbohrt ist. Seit dem 15. Jahrhundert steht dieses Symbol für seine brennende Suche nach und wortwörtliche Leidenschaft für Gott (vgl. Conf. IX, 2, 3). Das weiche Gesicht des Augustinus von Hippo wird von Locken umrandet. Die Augen zeigen leicht nach oben. Der Blick scheint über den Betrachter hinweg gerichtet zu sein; aber nicht in die Ferne – Augustinus ist auf sein Inneres, seine Seele konzentriert (vgl. Conf. X, 27, 38). Statt als römischer Gelehrter wird Augustinus von Hippo durch diese Figur als christlicher Heiliger erkennbar.

Quellen

  • Augustinus von Hippo: Confessionum Libri XIII. In: Migne, Jaques P. (Ed.): S. Aurelii Augustini Opera Omnia (Patrologia Latina Bd. 32). Paris 1843, Sp. 660-868, bes. Sp. 722f., 756, 763f., 795, 801.
  • Augustinus von Hippo: Sermo CCLVI. In: Migne, Jaques P. (Ed.): S. Aurelii Augustini Opera Omnia (Patrologia Latina Bd. 38). Paris 1863, Sp. 1190–1193.

Sekundäres

  • Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur / Grabowsky, Ingo (Hg.): Latein. Tot oder lebendig!? Katalog zur Sonderausstellung der Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur. Lindenberg 2022, bes. S. 150–161.
  • Henneböhl, Rudolf: Augustinus von Hippo: Zwischen Antike und Mittelalter. Vortrag am 11.09.2022 in Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Museum für Klosterkultur.
  • o. A.: Augustinus. In: Lexikon der Kunst Bd. 1. 2. Aufl. Leipzig 2004, S. 343–345.
  • o. A.: Die Pfarrkirche St. Johannes Baptist in Oesdorf. Kunstschätze erklärt in Wort und Bild. Oesdorf 2018.
  • Pieper, Roland: Dalheim. Pfarrort – Kloster – Staatsdomäne. Münster 2003.
  • Riedel, Peter / Wemhoff, Matthias (Hg.): Zerstreut und Zerschlagen. Kunstschätze aus Kloster Dalheim in Kirchen des Paderborner Landes. Paderborn 2003.
  • Sassen, Andreas: Barockaltar aus Dalheim – heute im Siegerland. In: Denkmalpflege in Westfalen-Lippe 1 (2001), S. 31–33.
  • Sternberg, Thomas: „Vertrauter und leichter ist der Blick auf das Bild“. Westliche Theologen des 4.–6. Jahrhunderts zur Bilderfrage. In: Stiegemann, Christoph (Hg.): Frühchristliche Kunst in Rom und Konstantinopel. Schätze aus dem Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst Berlin. Paderborn 1996, S. 31–51.