Hebräisch, Griechisch und Latein – dies sind die drei heiligen Sprachen des Christentums. Sie erhalten diesen Status der Heiligkeit aus der Inschrift, die Pilatus am Kreuz Christi eben in diesen drei Sprachen anbringen ließ. Auf der Grundlage des römischen Imperiums gingen Christentum und Latein eine erfolgreiche Verbindung ein, die das gesamte Mittelalter prägen sollte. Es überrascht daher nicht, dass das Lateinische auch auf die Volkssprachen Europas, darunter das Deutsche, einwirkte. Diese Wirkung lässt sich an verschiedenen Stationen der deutschen Literatur des Mittelalters sichtbar machen.
Wirksames Wechselspiel – Latein und Deutsch im Mittelalter
Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch
Die Produktionsstätten der Literatur des Früh- und beginnenden Hochmittelalters waren vor allem die Klöster. Bei den Geistlichen, speziell den Mönchen, kann man in gewisser Weise sagen, dass sie zweisprachig aufwuchsen, wenn sie bereits als Kind ins Kloster gegeben wurden. Aus der Klosterkultur ragte um die Mitte des 9. Jahrhunderts der Kleriker Otfrid von Weißenburg (* um 790; † 875) hervor. Er war der erste, namentlich bekannte Dichter in deutscher, genauer in althochdeutscher Sprache, mit einer umfassenden lateinischen und theologischen Bildung. Er beabsichtigte die Botschaft des Evangeliums auch in der Volkssprache zu verbreiten. Dafür dichtete er das sog. Evangelienbuch, das er dem Mainzer Erzbischof Liutbert († 889) widmete. Das Evangelienbuch ordnet die Geschichte Jesu aus allen vier Evangelien zu einer chronologischen, inhaltlich harmonisierten Reihenfolge und erzählt sie in dichterischer Form. Für Otfrid war die lateinische Bibel also nicht das Werk, das er übersetzen wollte. Otfrid wollte stattdessen das, was in der Bibel erzählt wird, die wichtigsten Botschaften, mit den Worten der Volkssprache auf seine eigene Weise erzählen. Er zeigte hier eine echte Transferleistung auf mehreren Ebenen. Im Widmungsschreiben an Liutbert schloss er das Deutsche sogar den heiligen Sprachen der Christenheit an – 700 Jahre bevor Luther die Verwendung des Deutschen rechtfertigte! Aus dem lateinisch verfassten Widmungsbrief lauten Otfrids Worte übersetzt:
Ich habe also [...] ausgewählte Abschnitte aus den Evangelien in fränkische Verse gebracht und bisweilen geistliche und moralische Auslegungen eingefügt. Auf diese Weise sollten alle, die bezüglich der Evangelien vor der Schwierigkeit einer fremden Sprache zurückschrecken, hier in der eigenen Sprache die hoch heiligen Worte verstehen lernen.
Fränkisch war der Stammesdialekt des Großstammes der Franken, denen auch Karl der Große angehörte. Otfrid brachte noch eine weitere Neuerung hinein: den Endreim, der im Evangelienbuch erstmals in der Volkssprache in schriftlicher Form erschien. Er ist uns bis heute erhalten. Otfrids Projekt aber blieb eine Einzelerscheinung, und Otfrid wollte auch nie an der Sakralsprache Latein rütteln.
Produktive Wechselbeziehung von Latein und Deutsch
Um 1200 stellt sich die Situation anders dar: Die Volkssprache behauptete sich sehr eigenständig und unabhängig gegenüber dem Lateinischen. Auf der anderen Seite war nun das Französische ein großer Einfluss. Dieser Sprachkontakt leitete eine literarische Hochphase ein, die dazu führte, dass die Zeit um 1200 als sog. Blütezeit der mittelhochdeutschen Literatur betrachtet wurde und wird: Mit Dichtern wie beispielsweise Walther von der Vogelweide (* um 1170; † um 1230), Wolfram von Eschenbach (* um 1160/80; † um/nach 1220), der u.a. den Parzival dichtete, dem anonym überlieferten Nibelungenlied, das ungefähr zu dieser Zeit verschriftlicht wurde, oder Gottfried von Straßburg († um 1215), dem Dichter des Tristan, erreichte die deutsche Literatur unzweifelhaft neue Höhepunkte. Es kam sogar zu den seltenen Fällen, dass mittelhochdeutsche Texte ins Lateinische übersetzt wurden: Der Gregorius des Hartman von Aue († zwischen 1210 und 1220) war dafür ein aussagekräftiges Beispiel. Diese Verslegende, die Inzest, Schuld, Sünde und Erlösung thematisiert, brachte Arnold von Lübeck (* um 1150; † 1211/1214) als Gesta Gregorii Peccatoris in lateinische Verse, womit eine Sache sehr deutlich wird: Das Lateinische war im Mittelalter eine sehr lebendige Sprache, die seit der Antike viele neue Formen, Versmaße, Gattungen, Stoffe und mehr entwickeln, kreativ aufnehmen, verarbeiten und verbreiten konnte. Man darf daher von einer produktiven Wechselbeziehung von Latein und Deutsch ausgehen, die durch die Jahrhunderte anhielt, zumal sich der Bildungserwerb im Mittelalter – damit die Grundlage für jede Schriftlichkeit – am Lateinischen vollzog. Wie die genannten Beispiele andeuten, war ein Monopol im literarischen Schaffen damit freilich nicht verbunden.
Mehr als „nur“ eine Übersetzung
Auch wenn der Strom an volkssprachiger Literatur breiter wurde und überall in Europa die Volkssprachen immer weiter an Bedeutung gewannen, hat das Lateinische bis zum Ende des Mittelalters nichts von seiner Dominanz in sämtlichen Bereichen, beispielsweise in der Theologie, Medizin oder ‚schönen Literatur‘, eingebüßt. Im Gegenteil: Durch die Renaissance und den Humanismus erhielt es eine neue Vitalität, die auch auf das Deutsche ausstrahlte. So machten sich um 1500 verschiedene Projekte daran, die Klassiker der römischen Antike ins Deutsche zu übersetzen, beispielsweise Vergils Aeneis. Dabei umfassten die Projekte stets mehr als ‚nur‘ eine Übersetzung: Hier sollten Inhalte auch medial erschlossen werden, indem Illustrationen, Merkverse, Überschriften und Marginalien (Randbemerkungen) ein ganzes Ensemble von Erschließungsinstrumenten bereit stellten. Das Titelblatt der wirkmächtigen Verdeutschung von Ciceros De officiis durch den Freiherrn Johann von Schwarzenberg, Augsburg 1531, legt davon Zeugnis ab:
Officia M. T. C. Ein Buch/ So Marcus Tullius Cicero der Römer/ zu seynem Sune Marco. Von den tugentsamen ämptern und zugehörungen/ eynes wol und rechtlebenden Menschen/ in Latein geschriben/ Welchs auff begere/ Herren Johansen von Schwartzenbergs etc. verteütschet/ Vnd volgens/ Durch jne/ in zyerlicher Hochteütsch gebracht/ Mit vil Figuren/ vnnd Teütschen Reymen/ gemeynem nutz zuo guot in Druck gegeben worden.
Latein als Vorbild für die deutsche Volkssprache
Die Vorreden der in derartigen Projekten entstehenden Ausgaben sprachen zwar manchmal davon, dass sie die Texte aus dem ‚lateinischen Tod in deutsches Leben‘ holen, jedoch schrieben sie im Allgemeinen die oben erwähnte Wechselbeziehung fort. Denn wieder wählte die Volkssprache das Lateinische als Vorbild, nahm es erneut als Kulturträger wahr und fand einen Umgang mit dem intellektuellen Reichtum, den die Europasprache Latein mitzubringen wusste. Gleichwohl wies das ‚deutsche Leben‘ eine neue Richtung, da den am Lateinischen geschulten Volkssprachen die Zukunft gehören sollte.
Literatur
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ders.: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. 4., aktualisierte Aufl. München 2000.
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Grubmüller, Klaus: Jahreszeiten, Blütezeiten: Meistererzählungen für die Literaturgeschichte? In: Rexroth, Frank (Hg.): Meistererzählungen vom Mittelalter: Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen. München 2007, S. 57–68. (Historische Zeitschrift, Beihefte N.F. 46)
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Henkel, Nikolaus: Lateinisch/Deutsch. In: Handbuch Sprachliche Kommunikation (HSK) 2: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Bd. 3. Hg. v. Werner Besch / Oskar Reichmann. Berlin - New York 2004, S. 3171–3182.
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ders.: Übersetzen im Mittelalter: Konstituenten des Sprachlichen Transfers: Adressaten – Ziele und Gattungsgebundenheit. In: Kovtyk, Bogdan/ Solms, Hans-Joachim/ Meiser, Gerhard (Hgg.): Geschichte der Übersetzung: Beiträge zur Geschichte der neuzeitlichen, mittelalterlichen und antiken Übersetzung. Berlin 2002, S. 191–214.(Angewandte Sprach- und Übersetzungswissenschaft 3)
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Haubrichs, Wolfgang: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von J. Heinzle, Bd. I,1). 2. Aufl. Tübingen 1995.
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Klein, Dorothea:: Mittelalter. Lehrbuch Germanistik. 2. aktualisierte Aufl. Stuttgart 2015.
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Müller, Jan-Dirk: Warum Cicero? Erasmus ‚Ciceronianus‘ und das Problem der Autorität. In: Scienta Poetica Bd. 3 (1999), S. 20–46.
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Otfrids Evangelienbuch. Herausgegeben von Oskar Erdmann. 6. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1973.
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Steinen, Wolfram von den: Der Kosmos des Mittelalters: Von Karl dem Großen zu Bernhard von Clairvaux. 2., durchgesehene und um eine Nachschrift vermehrte Aufl. Bern/ München 1967.
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Stotz, Peter: Alte Sprache – neues Lied: Formen christlicher Rede im lateinischen Mittelalter. In: Cardelle de Hartmann, Carmen (Hg.): Peter Stotz: Alte Sprache – neues Lied: Kleine Schriften zur christlichen Dichtung des lateinischen Mittelalters. Florenz 2012, S. 3–44.
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ders.: Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters. Bd. I: Einleitung, lexikologische Praxis, Wörter und Sachen, Lehnwortgut. München 2002. (Handbuch der Altertumswissenschaft, 2. Abt., 5. Teil, 1. Bd.)
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Wehrli, Max: Literatur im deutschen Mittelalter: Eine poetologische Einführung. Stuttgart 1984. (Reclams Universal-Bibliothek 8038)